Der Titel des Buchs von Dan Kieran macht deutlich: es geht um Reisen – und um ein Reisen, dass mehr ist als unterwegs sein. Das Buch Slow Travel ist 2012 in englischer Ausgabe und 2013/14 in deutscher Übersetzung erschienen. Ich habe kürzlich die deutsche Ausgabe gelesen, auf die ich mich hier beziehe. Ein “Loblied auf das Ungeplante, auf das Loslassen” (Tom Hodgkinson, im Vorwort) und eine Anregung zum bewussten Reisen. Auf den ersten Blick ein Buch ohne Bezug zur Raumplanung – auf den zweiten Blick allerdings auch Gedanken, die mitten hinein führen in aktuellen Stadt- und Planungsdiskussionen, Raumwahrnehmungen und Postwachstumsplanung.
Das Buch fordert in sieben Kapiteln zu einer anderen Art des Reisens auf – oder im Sinne Dan Kierans gesagt: zu einer Rückbesinnung auf den ursprünglichen Gedanken dahinter. Reisen bedeutet dann nicht eine Veränderung des Ortes, sondern auch Erfahrungen auf dem Weg und eine Veränderung in sich selbst. Zentrale Forderungen (Kapitel): Reise nicht nur, um anzukommen. Bleib zu Hause. Sei dein eigener Reiseführer. Heiße Katastrophen willkommen. Folge deinem Instinkt. Verliere den Kopf. Sei abenteuerlustig. Langsames Reisen ist hierbei relativ. Langsam genug, den Weg zu erleben. Schnell genug, andere Orte zu erreichen.
Dan Kieran erzählt in vielen eigenen Geschichten von Reiseerlebnissen, die nicht zustande gekommen wären, wenn Reisen nur der Überwindung einer Distanz dient oder wenn eine Reise nur dann gut sein kann, wenn sie perfekt geplant ist und nach diesem Plan verläuft. Seine Reisen sind dabei keinesfalls ungeplant. Unerwartete Ereignisse gehören für ihn aber fest zum Reisen dazu. Zugverspätungen schweißen zusammen, Sturm und Stromausfälle machen entlegene Inseln erst zu einem Erlebnis, unerwartete Situationen führen zu neuen Begegnungen.
Überzeugend berichtet er von seinen persönlichen Erfahrungen der Austauschbarkeit von Hotels, von Städten als Austauschbare Kulisse für schnell reisende Menschen oder über die Belanglosigkeit, die tausende Kilometer Reise (durch Kulturen, Zeitzonen, Klimazonen) für viele bedeuten. Damit verbindet sich auch die Erkenntnis: erfahrungsreiches Reisen muss nicht teuer sein, im Gegenteil. Den Anfang macht er im Buch mit einem alltäglichen Weg von zu Hause aus – nur zu Fuß, querfeldein, statt mit dem Auto. Facettenreich schildert er dann die Details, die er sonst nie wahr genommen hat, die Veränderungen zwischen den Orten. Das gleiche gilt für seine Tour mit einem elektrischen Milchwagen – aus der verrückten Idee entstehen viele Erlebnisse und Kontakte auf dem Weg, gerade wegen der langsamen Geschwindigkeit und ungewohnten Reiseweise. Das schränkt zugleich ein: die geschilderten Erfahrungen lassen sich nicht einfach wiederholen, nur zum Reflektieren nutzen.
Reiseführer schränken eigene Erfahrungen auf der Reise eher ein, zwängen in ein enges Korsett. Und: Schuldgefühle denjenigen vermitteln, die sich nicht genau an die Checklisten und in ihnen gegebenen ‘Vorgaben’ halten. Jede Stadt, jeder Ort hat seine eindeutigen Empfehlungen, was jeder gesehen haben muss. Offener bleibt aber, was jeder erlebt haben könnte, wenn er/sie sich auf den Rückweg macht. Jedenfalls aktuelle Reiseführer, während er auf alte Varianten verweist, die eher Lesebücher sind und positiv inspirieren zum eigenen Erleben. Zum Beispiel der Baedeker-Reiseführer Großbritannien von 1901, den er als Führer für Reisende (im Gegensatz zu Touristen) preist. Die schönsten Reiseerlebnisse sind für Kieran aber auch eine Mischung aus Ordnung und Unbekanntem und es wird doch deutlich, dass jede Reise eine gewisse Planung braucht und mit eben dieser Planung startet.
Die Gedanken lassen in Richtung Stadt- und Raumplanung darüber nachdenken, was es heißt, eine Stadt zu erleben, gleich ob die eigene oder eine fremde Stadt. Gehetzt in U-Bahnen von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten, ohne am Ende etwas über die Stadt zu wissen? Oder von einer Seite zur anderen Durchlaufen und offen sein für das, was zwischendurch am Weg liegt? Wie nehmen Planerinnen und Planer üblicherweise eine Stadt wahr und wie würde eine andere Perspektive auch die Gestaltung von Städten verändern? Wie viele Planerinnen oder Planer, die eine Strategie erstellen, einen Plan zeichnen, ein Konzept entwickeln, sind einfach mal in das Gebiet los gelaufen? Wie viele haben sich dort verlaufen? Welche Reisen und Abenteuer machen Städte für andere möglich?
In seinen Erzählungen überzeichnet Dan Kieran zweifellos ‘seine’ Variante des Reisens. Er erhebt zwar nicht den Moralanspruch, alle überzeugen zu wollen. Er wirkt aber dennoch sehr überzeugt und möchte überzeugen. Positiv hervorzuheben ist, dass es kein Ratgeber ist. Die persönlichen, sentimentalen, erinnerungsreichen oder emotionsgeladenen Geschichten sollen mehr für sich sprechen und können nur mittelbar als Reiseempfehlungen gesehen werden. Für ihn sind wir alle Odysseus auf der Reise unseres eigenes Lebens (S. 197). Schön, dass er sich hier nicht dem Trend anschließt, klare ToDo-Listen zu präsentieren oder in Do’s und Dont’s zu schreiben. Und damit dazu auffordert, die Qualität des Reisens – und des Lebens – zu genießen statt alles zu planen, zu perfektionieren. Das Gefühl von Gemeinschaft, wenn es auf Reisen entsteht, hängt mit der Notwendigkeit zusammen, sich auf andere Menschen zu verlassen offen zu sein und sich auf sie einzulassen (S. 203). Insofern geht es nicht um das notwendige Geld, sondern den Mut, loszugehen – und statt über nicht vorhandene Zeit zu reden, die eigene Zeit einfach zu nutzen. Das gilt sicher nicht nur auf Reisen, aber hier vielleicht besonders: wenn die Zeit des Unterwegssein sonst nur als notwendige Überbrückung des Wechsels zwischen zwei Orten verstanden wird, sondern als (potenzielles) eigenes Erlebnis.
Dazu gibt es sehr konkrete Tipps, zum Beispiel: “Es lohnt sich, mit einem Dreijährigen aus einem Zugfenster zu schauen und sich von ihm alles zeigen zu lassen anstatt umgekehrt” (S. 97). So ruft das Buch im Grundton zu Neugier, Offenheit und Interesse an Neuem auf und wehrt sich gegen inszenierte Erlebnisse und Vorurteile. Dabei liest es sich flüssig und greift auf eine spannende Verbindung aus persönlichen Erfahrungen, philosophischen Hintergründen, Reiseliteratur und geschichtlichen Rückblicken zu. Mir hat es gefallen.
Buch:
Kieran, Dan (2014). Slow travel: Die Kunst des Reisens. Berlin: Heyne.
Eine schöne Rezension! Wenn reisen, dann sicher bewusst, mit offenen Augen, auch mal ungeplant und langsam – gerne mit dem Fahrrad, Boot, vielleicht auch Zug – das kann ich nur auch unterschreiben.
Allerdings sagt es sich natürlich leicht, dass es eher um Mut als um Geld geht – wenn man auf kleinerem Fuß unterwegs ist, bedeutet strikte Vorplanung eben oft eine Ersparnis, je früher man sich festlegt desto preiswerter. “Heiße Katastrophen willkommen” kann dann schnell teuer werden.
Auch interessant dass er die alten Reiseführer als “für Reisende” statt als für Touristen beschreibt – vielleicht ja ein erster Anknüpfungspunkt für eine räumlich-analytische Betrachtung solcher Reiseführer!