Christchurch 2015

Buch: Das metrische Wir (Steffen Mau, 2017)

“Zahlen lügen nicht” – so zumindest eine weit verbreitete Meinung. Aber: können Zahlen überhaupt sprechen? Und was sagen sie dann? Was passiert durch eine fortschreitende Quantifizierung unserer Gesellschaft und aller Teilbereiche des Lebens? Rankings und Ratings, Scorings und Screenings, Sterne und Punkte oder Balken und Kurven bestimmen nicht nur die Wirtschaft, sondern zunehmend das Zusammenleben aller Menschen in allen Teilen der Welt. Was macht das mit dem Sozialen? Was mit dem Zusammenhalt und was mit Gemeinschaft(en)? Fragen, denen sich Steffen Mau in “Das metrische Wir: Über die Quantifizierung des Sozialen” (suhrkamp, 2017) widmet. Wunsch nach Evidenz, Zahlen und Vergleichbarkeit auf der einen Seite – Wunsch nach Gemeinschaft, Gerechtigkeit und Zusammenhalt auf der anderen. Ein Spannungsfeld, dass das Buch spannend macht.

Der Titel führt eigentlich etwas in die Irre. Das metrische Wir zeigt sich am Ende als individuelles und quantifiziertes Ich, das sich nicht mehr als gleichberechtigter Teil einer Gemeinschaft definiert, sondern nur durch quantifizierte wertende Abgrenzung gegenüber anderen. Ohne Gesellschaft ist jedes Ich nichts. Aber das Ich wird nicht bedeutsam als Teil von etwas Größerem, das gemeinsame Sicherheit und Zufriedenheit bietet. Das Ich wird bedeutsam in quantifizierter Abgrenzung zu anderen. Am Ende droht die Gefahr, blind zu werden, für alles, was nicht quantifizierbar ist. Sicher ein Trend, den viele Planer*innen bestätigen können. Dazu lohnt sich der Blick durch das Buch von Steffen Mau.

Ein gutes Leben für alle mag ein Ziel sein. Wesentliche Bestandteile davon sind aber in ihrer Komplexität nicht quantifizierbar. Wer Emotionen messen möchte, Beziehungen durch eine Zahl ausdrücken oder Liebe und Verbundenheit in eine Rangfolge bringt, nimmt eine drastische Reduktion von Komplexität vor. Etwas, das Politik zwar einerseits ermöglicht, aber auch am eigentlichen Ziel vorbei gehen kann. Differenzen werden hervorgehoben, der Blick auf Gemeinsamkeiten eingeschränkt (S. 285). Die Rationalisierung von Politik braucht “numerische Repräsentationen der Gesellschaft” (S. 36) und Steffen Mau spricht sich nicht dagegen aus. Das Soziale ist nicht in der Gesamtheit erfassbar, Handeln braucht Reduktionsmechanismen für Komplexität, die mitunter auch quantitativ sein dürfen  und müssen. Es gibt für ihn aber keinen Grund, dass sich das auf alle Bereiche beziehen muss und dass wir selbst im Zusammenleben mit Mitmenschen das gleiche tun und diesen Weg der Komplexitätsreduktion übernehmen.

“Mit der Durchsetzung der Quantifizierung werden wir aber alle – mehr oder weniger – zu Gläubigen in der Kirche der Zahlen. Wir sitzen im Zahlengehäuse und beobachten uns selbst.” (S. 47)

Die Gesellschaft auf dem “Weg zur datengestützten Dauerinventur” (S. 12) bedeutet, dass Sicherheit verloren geht, sich Status permanent im Vergleich mit anderen neu definiert, dabei immer relativ bleibt und die Bedeutung von Statusarbeit immer wichtiger wird. Gesellschaftlich relevant ist nur noch, wer aktiv dafür arbeitet. Das zieht die Definitionsgrenze zwischen Arbeit und Freizeit in eine ganz andere Richtung und deutet darauf hin, dass echte – vollständige, uneingeschränkte, ‘sinnlose’ – Freizeit immer unmöglicher werden könnte.

Es geht für Steffen Mau dabei nicht in erster Linie um große Konzerne und deren Nutzung großer Datenmengen. Sondern darum, was die Sammelwut nach Daten mit uns selbst macht. Und vor allem, wieso wir so bereitwillig immer größere Datenmengen aktiv bereitstellen und selbst den Prozess vorantreiben, in dem immer mehr Aspekte des Sozialen in einen quantitativen Wettbewerb um die besseren Zahlen überführt werden. Der ‘Konflikt der Klassen’ wird zwar aufgelöst, aber es entwickelt sich ein ‘Wettbewerb der Individuen’ (S. 20). Wettbewerb, eine Logik der Optimierung und der Leistungsvergleich durchdringen alle Bereiche – und Zahlen genießen einen enormen gesellschaftlichen Vertrauensvorschuss (S. 28). Plakativ gesagt: wer vertraut noch seinem Gefühl, ob es sich lohnt, in ein Café hineinzugehen, wenn er/sie Tripadvisor oder Google nach einer Bewertung fragen kann? Kann das eigene Gefühl besser sein als hunderte Bewertungen anderer?

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Dabei stellt Mau heraus, wie sich Vergleichsmaßstäbe so verfestigen, dass Alternativen kaum noch möglich scheinen. Wissenschaftsintern nennt er den H-Index oder andere Zitationsmaße, die – obwohl oft erst vor wenigen Jahren erfunden – heute schon weltweit darüber entscheiden, was gute oder schlechte Forschung ist. Ein weiterer Aspekt der Numerokratie, die Mau beschreibt. Alles wird miteinander vergleichbar – und zwar weltweit. Vielleicht eine Verwirklichung einer Weltgesellschaft, vielleicht aber auch katastrophale Vereinfachung komplexer Realitäten. Das metrische Wir fordert dann zum nie endenden Steigerungsspiel – auch in Anlehnung an Hartmut Rosas Bücher über Beschleunigung, rasenden Stillstand und Resonanz. Es gibt keine Sättigung und seine Teilnehmer*innen sind nie satt (S. 68). Dabei entstehen eher – hier im Fall von Ratings – “glaubwürdige Fiktionen in Situationen großer Unsicherheit” (S. 96).

“Die Leitthese dieses Kapitels lautet, dass derartige Screenings und Scorings zunehmend gesellschaftliche Platzanweiserfunktionen übernehmen: Sie bestimmen unsere Position in der Welt, unsere Lebenschancen, unsere Handlungsmöglichkeiten, die Art, wie wir behandelt werden. In der metrisierten Gesellschaft werden wir also immer wieder auf unsere Daten zurückgeworfen. Wir können ihnen nicht entkommen. Unter den Bedingungen der Digitalisierung drängen die kalten Prozeduren der algorithmischen Datenauswertung Bauchgefühl und Erfahrung immer mehr in den Hintergrund.” (S. 107)

Warum machen wir das? Warum teilen wir automatisiert selbst wertvolle Gesundheitsdaten mithilfe von Apps und Wearables jederzeit – sogar live – mit einzelnen (Krankenkassen, Freunde) oder gar öffentlich mit allen? Eine klare Antwort aus psychologischer Sicht sucht Steffen Mau nicht. Aber er weist darauf hin, dass der Körper damit zunehmend keine Privatangelegenheit mehr ist, sondern Teil wirtschaftlicher Produktivität (S. 119). Weiter gedacht: wer einfach nur etwas macht, was Spaß macht oder nur auf sein Gefühl hört, macht sich verdächtig, handelt unverantwortlich (gegenüber sich selbst). Und wer nicht mitmacht, droht Gefahr zu laufen, Skepsis auszulösen oder gar ausgeschlossen zu werden. Individualisierte Versicherungen sind einerseits schön, weil sie passgenau sind. Anderseits führen sie den Versicherungsgedanken komplett ad absurdum. Es gibt keine Risikogemeinschaft, es gibt nur noch individuelles Risiko. 

“Daumen hoch oder Daumen runter, Noten oder Ratingpunkte vergeben und Ranglisten erstellen, statt Eindrücke schildern, abwägen oder einfach hinnehmen.” (S. 139)

Wer Bewertungsschemata etabliert, kann ganze soziale Felder strukturieren (S. 129). Für Mau entsteht ein zunehmendes globales Expertentum, dass auf diesem Weg Standards setzt, die für alle gelten. Soziale Hierarchien entstehen nicht im Austausch von Individuen, sondern im Vergleich von Daten. Alles muss immer und überall bewertet werden – der Bewertungsimperativ (S. 142). Google fordert dazu auf, Hotels fordern ihre Gäste dazu auf, Läden ihre Kunden. Es ist ein “Krieg der Sterne” (S. 147) statt ein Krieg um echte Leistung. Wie kann jemand aus so einem Teufelskreis ausbrechen? Kann man einen Trend überhaupt noch verändern? Verdient nicht jede*r eine vorurteilsfreie Bewertung und eine zweite Chance? Die Individuen treten dahinter zurück, Bewertungen werden auch zur Waffe.

Das metrische Wir kann dazu führen, dass intrinsische Motivation durch extrinsische ersetzt wird (S. 180). “Technologien der Selbsterkenntnis sind daher immer zugleich auch Technologien der Fremderkennung” (S. 251). Wir möchten uns selbst erkennen und verbessern z.B. durch Tracking-Apps. Aber anderen bietet das ebenso wunderbare Möglichkeiten, uns zu erkennen – vielleicht bessere, als uns selbst. Als Individuum fühlen wir uns vielleicht gesund oder krank. Aber die Daten wissen es – so zumindest unser Glauben. Wir gehen nicht nach draußen, weil wir Lust auf frische Luft und Sonne haben, sondern weil laut Handy noch 2.000 Schritte zum Tagesziel fehlen. Und verantwortlich sind immer wir selbst. “Das Individuum wird nunmehr immer auf sich selbst zurückverwiesen” (S. 184). Jeder ist für seine eigene Statusarbeit verantwortlich. Ein Miteinander gibt es nicht, ein Gegeneinander unausweichlich.

“Generalisiertes Vertrauen, implizite Bewertungsformen und professionelle Selbststeuerung werden damit durch eine ‘Kultur der Evidenz’ [in politischen Gremien / politischer Diskussion] ersetzt, die sich auf Dokumentation, Monitoring und Indikatorisierung stützt.” (S. 200)

Die Frage drängt sich direkt auf, wozu Vertrauen noch notwendig ist, wenn es eine klare Bewertung gibt. Wir fahren in den Urlaub, um etwas Neues zu erleben. Und möchten dennoch nur das erleben, was wir vorher als Bewertung lesen. Ungeplante Überraschungen unwillkommen. Eigene Entdeckungslust und eigenes Bauchgefühl überflüssig. Das würde wieder der Selbstdokumentation zuwiederlaufen, nicht das nachweislich (weil in der Bewertung höchste) beste gemacht zu haben. Quantifizierung läuft damit auch gegen Diversität und Differenz und für eine Einheitlichkeit, die sich an der Wahl der Indikatoren ausrichtet (S. 227). Ist die metrische Stadt damit eine homogene, einheitliche Stadt, und wer ist aus ihr ausgeschlossen? “Nur wer sich zählen lässt, zählt auch dazu. Nur wer sich beziffern lässt, zählt.” (S. 234).

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Am Ende bleibt die etwas dystopische Vision, dass aus Deskription eine Askription wird (S. 268). Wir können den Daten nicht mehr entkommen und nicht unabhängig davon handeln, was uns für Attribute zugeteilt wurden. Stigmata werden verfestigt und verfestigen sich selbst. Mau sieht eine Hyperindividualisierung auf uns zukommen (S. 272) und sieht ein hohes soziales Spaltpotenzial in den von ihm beschriebenen Prozessen: “Hier kommt Individualisierung nicht als Befreiung und Emanzipation daher, sondern als Separierung des Einzelnen durch statistische Erkennung” (S. 272). Unsere Gesellschaft wird zum Kollektiv der Ungleichen – und damit keine zusammenhängende Gesellschaft mehr. Für Stadt- und Raumplanung weiter gedacht: Wir bauen sicher noch gemeinsame Orte, schaffen aber keine gemeinsamen Räume mehr. Wir sind in konstanter Beschleunigung und hetzen Indikatoren hinterher und werden doch nur dann besser, wenn andere nichts tun oder schlechter werden. Leistung kann nur noch relativ sichtbar werden.

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Was bleibt zum Ende zu sagen? Ein spannendes Buch mit vielen Facetten auf die Quantifizierung aller Aspekte unseres Lebens. Die zehn Kapitel lassen sich gut lesen und werfen unterschiedliche Schlaglichter auf das Thema, das sich gut durch alle Abschnitte zieht. Sie greifen auf viele Beispiele und Grundlagen zurück, sind aber sicher nicht umfassend in der Auswahl der verwendeten Studien und an einigen Stellen wären (noch) aktuellere Studien als Ergänzung schön. Vielleicht gibt es die aber auch zu einigen Fragen gar nicht. Mau hält sich zurück bei individuellen und psychologischen Faktoren (warum machen wir das alles überhaupt mit?) und bei normativen Schlussfolgerungen (was sollten wir jetzt verändern?). Für Stadt- und Raumplaner*innen drängt sich die Frage auf, wie wir mit der Frage nach einer größeren Evidenzbasis umgehen sollten. Welche Wege zur Förderung von Initiative, Integration und Gemeinschaft mit welcher Grundlage gegangen werden sollten. Und welche (bzw. wessen) implizite Benennungsmacht hinter vielen Indizes, Rankings oder Wertungen steht. Das metrische Wir führt zu einer neoliberalen wachstumsorientierten Planung – nur nicht von oben verordnet, sondern von unten selbst herbeigeführt. 

Das Buch sollte nicht missverstanden werden als Manifest gegen Daten, gegen Quantifizierung von (sozialen) Aspekten des Lebens oder gegen jede Art des Vergleichs. Es ist aber ein starkes Statement dafür, dass es Aspekte gibt, die nicht quantifiziert werden müssen. Und vielleicht am stärksten die Forderung danach, dass eine Gesellschaft mehr als Zahlen braucht und der Kern von sozialem Zusammenleben etwas bleibt, was vielleicht nicht quantitativ verglichen werden kann – aber auf jeden Fall nicht verglichen werden sollte.

Buch:

 

Steffen Mau (2017): Das metrische Wir – Über die Quantifizierung des Sozialen. Suhrkamp.

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