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Buch: Die Macht der inneren Bilder (Gerald Hüther, 2004)

Gerald Hüther ist einer der derzeit in vielen Medien präsenten Neurobiologen, der sich intensiv mit der Entwicklung unseres Gehirns in allen Phasen des Lebens beschäftigt und bis in die Zeit vor der Geburt zurückgeht, um uns selbst einen Spiegel vorzuhalten. Sein Buch “Die Macht der inneren Bilder: Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern” ist in erster Auflage 2004 erschienen und seitdem vielfach neu aufgelegt.

Über das Buch bin ich im Juli gestolpert und fand es schon wegen seines Titels spannend. Grund genug, einen tieferen Blick hineinzuwerfen. Ein Interview zu Inhalten des Buchs und weiterer seiner Bücher, das BR alpha geführt hat, ist bei YouTube unter https://www.youtube.com/watch?v=8HhUOH3qGw0 erreichbar.

Mit inneren Bildern bezieht sich Hüther auf Selbstilder, Menschenbilder und Weltbilder, “die wir in unseren Köpfen umhertragen und die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen” (S. 9). Diese inneren Bilder sind Grundlage dafür, wie wir unsere Welt – bewusst und unbewusst – gestalten. Wissenschaft hat für Hüther bisher immer mehr Licht auf äußere Bilder geworfen, aber die Macht der inneren Bilder vernachlässigt, bis hin zur geistigen Erblindung (S. 13). Ein inneres Bild für ihn ist eine “Beschreibung all dessen, was sich hinter den äußeren, sichtbaren und messbaren lebendigen Phänomenen verbirgt und die Reaktionen und Handlungen eines Lebewesens lenkt und steuert” (S. 17). Eine zunächst sehr abstrakte Definition, die im Laufe des Buchs mehr Konturen erhält, aber bis zum Ende den Charakter einer theoretisch-reflexiven Diskussion behält.

Wichtig für Hüthers Beschreibung ist die Erkenntnis, dass Beziehungserfahrungen für uns am wichtigsten sind und unsere Entwicklung alleine undenkbar ist (z. B. S. 30). Gemeinschaft ist der Kern unserer Existenz, ohne Gemeinschaft sind wir nichts und können gar nicht als Lebewesen existieren. Alle in unseren Gehirnen etablierten Verbindungen sind das Ergebnis von anderen Menschen – schon Sprache ist alleine nicht erlernbar. Leben bedeutet für Hüther dann auch konsequenterweise nicht komplizierte Prozesse oder ein biologischer Ablauf, sondern die Fähigkeit, Prozesse zu steuern und zu lenken und sich selbst zu erhalten (S. 33). Dementsprechend bezeichnet er es gar als unlogisch, warum wir einen Schwarm nicht als eigenständiges Wesen erkennen können oder wie unsere gängige Definition von Lebewesen ausgestaltet ist (S. 51). Innere Bilder sind eine eigene Kraft, die in allem Lebendigen steckt (S. 92). Der Zwang zu wirtschaftlichem Erfolg wird im Folgenden dargestellt als Verlust von Halt durch innere Bilder, sodass sich der Mensch selbst “als Schöpfer und Ordnungsstifter” (S. 38) in den Mittelpunkt rücken muss. Das Fehlen individueller wie kollektiver innerer Bilder führt dann zu einer Ersatzbefriedigung im Konsum, der als Erfolgskriterium einen Ersatz bereithält. Er folgert dann auch: “Die über mehrere Generationen hinweg vernachlässigte Weitergabe und Weiterentwicklung langfristiger, gemeinsamer Orientierungen hat zu einer tief greifenden Störung des inneren Beziehungsgefüges der Gesellschaft geführt” (S. 42).

Hirnentwicklung ist für Hüther “ein sich selbst organisierender, durch Interaktionen mit der äußeren Welt gelenkter Prozess” (S. 65) – und positiv gesehen bedeutet es für ihn, dass Veränderung und Lernen grundsätzlich jederzeit und für jeden möglich sind und wir alle unser Leben und unser Zusammenleben jederzeit positiv gestalten können. Dabei weist er auf die positive Kraft von Problemen hin. Kinder lernen, Probleme zu lösen und dabei gleichzeitig, dass es dabei Unterstützung gibt. Das stärkt für ihn wichtige Bindungsbeziehungen und führt zur Schlussfolgerung: “Wer keine Probleme hat, kann weder sichere Bindungen ausbilden noch die Erfahrung machen, dass die Aneignung eigener Kompetenzen Spaß macht und das Selbstwirksamkeitskonzept stärkt.” (S. 68). Probleme sind also mehr Anlass für Spaß und gemeinsame Problemlösung, denn Anlass für Verzweiflung oder Aufgeben. Die Fähigkeit, neue Eindrücke mit neuen Assoziationen zu verbinden, “verschwindet (leider) in dem Maß, wie ein Mensch zu der inneren Überzeugung gelangt, alles, was es nun noch an Neuem wahrzunehmen gibt, bereits zu kennen” (S. 78). Eine klare Aufforderung, die Lust auf Neues ein Leben lang zu erhalten.

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Innere Bilder sind für Hüther auch immer mögliche Handlungsoptionen, die innere Konflikte hervorrufen können (S. 84f.). Druck führt dabei dazu, in frühere Muster zurückzufallen und “eingefahrene Denk-, Gefühls- und Handlungsmuster” (S. 87) zu verfolgen. Dagegen gilt, dass der “spielerische, kreative Umgang mit unterschiedlichsten Bildassoziationen [..] von fast allen Menschen als sehr entspannend und genussvoll empfunden [wird]. Das Denken selbst (also die in der Vorstellungswelt auftauchenden oder wachgerufenen Bilder) wird dann zum Impuls für das Weiterdenken” (S. 88). Denken und Lernen machen ohne Druck nicht nur mehr Spaß, sondern sind auch in klassischen Erfolgskriterien besser.

Hüther versteht Wachstum demzufolge auch in einer kritischen Perspektive. Alles was lebt kann Wachsen, beim Wachsen passieren aber Fehler (S. 98) und jedes Wachstum ist endlich, da es zur Verknappung von Ressourcen führt (S. 99). Demgegenüber steht das geistige Wachstum, das möglicherweise den Kern unseres Lebens ausmacht oder ausmachen sollte: “Das bis dahin sichtbare und messbare Wachstum ist in ein immaterielles, nicht sichtbares Wachstum umgeschlagen. Leben ist – wenngleich noch immer an materielle Strukturen gebunden – zu einem geistigen Wachstumsprozess geworden” (S. 100). 

Dazu liefert Hüther insgesamt nur knappe konkrete Empfehlungen, die sich vor allem im hinteren Teil des Buchs finden (z. B. S.103ff.). Für ihn kommt es wirklich an “auf Vertrauen, auf wechselseitige Anerkennung und Wertschätzung, auf das Gefühl und das Wissen, aufeinander angewiesen, voneinander abhängig und füreinander verantwortlich zu sein” (S. 104). Sehr abstrakte Ausblicke, die an keiner Stelle unmittelbar umsetzbar sind, sondern immer im eigenen Gehirn mit bestehenden Bildern verknüpft und vor dem eigenen Erfahrungshorizont auf Veränderungsmöglichkeiten hin geprüft und ‘übersetzt’ werden können.

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Als positive wie schwierige Botschaft, die auch für Stadt- und Raumplanung relevant ist, liefert Hüther eine zweischneidige Botschaft. Neue kollektive Bilder sind möglich, aber sie müssen immer eng an bisherigen Bildern anknüpfen. Es geht also möglicherweise mehr um das schrittweise Anpassen als um das Revolutionieren. Er sagt “Und auch eine neue gemeinsame Vision, ein neues Welt-, Feind- oder Menschenbild kann eine menschliche Gesellschaft nur dann entwickeln und als kollektives Bild verbreiten, wenn es mit dem vereinbar ist, was die Mitglieder dieser Gemeinschaft bisher zusammengehalten und ihnen eine gemeinsame Orientierung geboten hat” (S. 110). Bilder dürfen sich andererseits aber nicht verengen, starr oder übermächtig werden. Phantasie ist entscheidend und muss für Hüther erhalten und gestärkt werden: “Die Welt unserer Phantasie ist der einzige Ort, an dem wir tun und lassen können, was wir wollen. Ob wir die buntesten Bilder hervorzaubern, oder die verrücktesten Ideen entwickeln – hier gibt es nichts, was unser Denken und Fühlen in eine bestimmte Richtung zwingt. Wem es gelingt, ganz unbefangen in diese Welt der Phantasie abzuheben, ist wirklich frei” (S. 112). Er schränkt zugleich ein, dass dieser Anspruch in realen Umgebungen nur sehr schwer einzulösen ist.

Dortmund Regenbogenbrücke

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Am Ende schließt Hüther dann auch mit mehreren positiven Botschaften. Erstens, innere Bilder können weitergegeben werden und die Existenz einzelner Menschen überdauern (S. 133). Zweitens, die Welt lässt sich nicht in allen Einzelheiten beherrschen und Scheitern ist unvermeidbar als positiver Bestandteil. Drittens, die Ausbreitung von Wissen lässt sich nicht verhindern (S. 135) und viertens, das entscheidende innere Bild für alle Menschen ist die Zuversicht. Durch ein tieferes Verständnis psychologischer und neurologischer Prozesse könnte auch Stadt- und Raumplanung eigenes Handeln tiefer reflektieren und mehr Elemente von Fantasie, Spiel und Irrtum einfügen, die für unsere Hirnentwicklung elementar sind.

So bleibt es insgesamt dabei, dass sich das Buch von Hüther sehr flüssig lesen lässt und die Argumentation immer wieder aus einer anderen Facette schlüssig aufgegriffen und mit allgemeinen Beispielen versehen wird. Das Buch selbst gibt dem Text aber keine Bedeutung, da alle Abschnitte eher theoretisch-reflexiv sind und Fragen sowie Denkansätze aufwerfen. Bedeutung kann also wiederum nur im Gehirn des Lesers entstehen. Die Kernaussage des Buchs könnte so auch kürzer zusammengefasst werden – hier sind die verfügbaren Interviews und Vorträge von Gerald Hüther ebenfalls sehr hilfreich. Wer selbst einmal anders über die Vorgänge im eigenen Gehirn, Fragen von Zusammenhalt, von Lernen und von geistiger Entwicklung nachdenken möchte, findet gerade durch die Länge des Buchs aber viele spanende Denkanstöße. Und ganz am Ende auch noch zwei Seiten weitergehender persönlicher Literaturhinweise des Autors. Ein nachdenkendes und nachdenkliches Buch, das sauber und tiefgehend geschrieben ist, ohne anzugreifen oder zu belehren. Es erfordert aber ein Einlassen des Lesers auf die Denkweise und ein Mitdenken, Prüfen und Weiterdenken.

Buch:

 

Hüther, Gerald (2015). Die Macht der inneren Bilder: Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. (9. Auflage)

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